Die Legende von der Walnuss

Die Legende von der Walnuss, die sich Winterhausen zur Heimat genommen hat

von Christine Hidringer

Zu einer Zeit, als oberhalb des kleinen Dorfes am Fluss noch kein heller grüner Wald stand, als auf den Hügeln ringsherum Weinstöcke in Reih und Glied gediehen, als die Wiesen noch mit der Sense gemäht und Pflüge über die Äcker von Ochsen oder Pferden gezogen wurden, als die Frauen ihre Wäsche im Main wuschen und die Männer mit feisten Hämmern den Stein hauten, als durch die lehmigen Gassen des Dorfes Fuhrwerke holperten und noch keine Brücke den Main überspannte, zu dieser Zeit flog von Osten her ein Rabe über das fränkische Land.

Es war ein großer, glänzend schwarzer Vogel, und er ließ sich Zeit. In ruhiger Gleichmäßigkeit schwang er seine Flügel auf und nieder, beäugte mal mit dem einen, dann mit dem anderen Auge Bachläufe, Dörfer und Wälder unter sich. Auskosten wollte er die Vorfreude auf das Schmankerl. Warten, bis er einen geeigneten Platz fände, die Walnuss, die er fest im Schnabel trug, fallen zu lassen, damit diese aufplatze und sich ihm das köstliche Nussinnere zum genüsslichen Verzehr darböte. So erreichte der Krack den Main, folgte eine kleine Weile dem silbrigen Band, bevor er ihn überflog, über ein Dorf, auf dessen Kirchturm eine Mondsichel, Sterne und ein Träubel golden glänzten. Just über dem darüber liegenden Steinbruch, umwachsen von Apfel- und Birnbäumen hörte er plötzlich jemanden zischen: „Lass mich runter! Lass mich sofort runter!“ Bevor der Rabe überhaupt begriff, woher die Stimme kam, hatte er schon vor Schreck den Schnabel weit aufgerissen. Die Walnuss fiel in die Tiefe und plumpste irgendwo zwischen die Steine im Bruch. Unglücklich kreiste der Rabe noch eine ganze Weile über der Stelle, aber er konnte die Köstlichkeit, auf die er sich so gefreut hatte, nicht wiederfinden. Enttäuscht drehte er ab und flog Richtung Nachbardorf, wo er sich hungrig alles aus der Erde pickte, was die jetzt im Spätherbst noch hergab, schließlich entschloss er sich zu bleiben und gründete eine Familie, nach der heute der dortige Faschingsverein benannt ist.

Die Walnuss war hart aufgeschlagen, dotzte auf einen Stein, dotzte von da in immer kleineren Sprüngen weiter, rollte schließlich noch eine kleine Strecke, bis sie zum Stillstand kam. Richtig schwindlig war ihr geworden. Erleichtert stellte sie fest, dass ihre Schale heil geblieben war. Zufrieden über den außergewöhnlichen Ort, an dem sie nun lag, kullerte sie ein wenig hin, ein wenig her, bis sie eine kleine Erdhöhlung unter sich spürte, in die sie sich richtig hinein kuschelte. Der Wind fegte über sie hinweg und Regen fiel aus grauem Herbsthimmel. Die Walnuss schlief so fest, dass sie gar nicht spürte, wie sie immer tiefer ins Erdreich sank. Der Winter brachte die Kälte und den Schnee. Von all dem spürte die im dunklen Boden schlafende Nuss nichts.

Sie erwachte, weil es warm um sie herum wurde. Sie hörte das Saugen und Seufzen der Wurzeln um sich herum, das Knistern von Gräsern, da und dort leichte Krabbelgeräusche. Wohlig dehnte und streckte sie sich. Von niemandem bemerkt, schwoll ihr Kern, stieß an die harte Haut, kämpfte, bis ein Spalt seinem Lebenshunger nachgab.

Resigniert klappte die harte Schale zurück und ein kräftiger Keim schob sich heraus, durchstieß die duftende Erdkrume und schaute blinzelnd zur Sonne. Schön war die Welt, und der kleine Sämling reckte sich, wollte er doch mehr sehen, mehr erleben. Er wuchs heran und entdeckte seine Umgebung. Wie sehr die ihm gefiel. Er hörte Mäuse und Vögel erzählen von dem Dorf Winterhausen und seinen Menschen, die freundlich, fröhlich und arbeitsam waren. Doch, sich hier nieder zu lassen, das war eine klkuge und glückliche Entscheidung! Er wünschte sich, die Häuser, Gärten und Menschen zu sehen, den Jahreslauf erleben, ein Teil von ihnen zu werden!

Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter gingen über den kräftigen Walnusstrieb hin. Längst hatte er seine ersten Kämpfe gefochten gegen unachtsame Stiefel, gegen hungrige Tiere, gegen Wagenräder. Wie gut, dass er noch so jung und biegsam war und sich stets nach derartigen Attacken wieder aufrichten konnte! Jahr um Jahr verfolgte er nur ein Ziel: ich will einer von euch hier in Winterhausen werden! Groß und stark und für alle von Nutzen!

Bald fiel der junge Walnussbaum auf, und nicht nur, weil er als stolzer Einzelgänger auf dem Kamm des Steinbruchs heran wuchs. Vielleicht lag es an seiner Rinde, die silbrig, aschgrau und bräunlich schimmerte. In zarten Farben trieb er Jahr für Jahr seine Blätter aus den Ästen, um sie von der Sonne während des Sommers in ein dunkles Grün, im Herbst gar in sattes Braun verwandeln zu lassen. Die Vögel aus dem Dorf unten trugen ihm das zu, dass die Bürger ihn längst entdeckt hatten und gespannt darauf warteten, was für ein Baum er sei. Das waren gute Nachrichten für ihn, er freute sich darauf, bald zu zeigen, was für ein nützliches Mitglied der Dorfgemeinschaft er sein konnte.

Und endlich war die Zeit da, auf die der junge Baum so lange hatte warten müssen, die er so sehr herbei gesehnt hatte. Bienenschwärme zogen summend und brummend an ihm und den Weinstöcken vorbei zu den lockenden Obstbäumen hin. Die Luft schwirrte und sirrte, Insekten flogen an den Ästen des Walnussbaumes vorüber, wo kleine, beinahe unscheinbare Blüten in den Achseln der Blattnarben siedelten. Lauer Frühlingswind fächerte das glattgrüne Laub in die Höhe und trug den Pollenstaub der Kätzchen zu den klebrigen weiblichen Blütenständen.

Unermüdlich trieb der Baum seine Wurzeln wie einen Pfahl in die Tiefe und pumpte nährende Flüssigkeit aus der Erde. Wünschte er sich doch seinen Nachwuchs groß und kräftig. Viele waren es noch nicht. Fürsorglich ordnete er sein Blattwerk so, dass sie niemandem, weder Mensch noch Tier, ins Auge fielen. Denn sie sollten einen Auftrag für ihn erfüllen. Und dafür wartete er auf ihre Reife und dann auf den passenden Moment.

Als der heiße Sommer seinem Ende zuging, die Apfelbäume unter der Last ihrer Früchte ächzten und begannen, einen nach dem anderen loszulassen, als die Wespen die Bienen ablösten und trunken zwischen all dem gärenden Obst umhertaumelten, als die Weinbauern den Berg hinauf stiegen und die reifen Träubel in geflochtene Weidenkiepen schichteten und zur Presse trugen, da wusste der Walnussbaum, dass seine Stunde bald gekommen sein würde.

Vom Nachbardorf her flogen Kraken in Schwärmen über die abgeernteten Felder, ließen sich schwarzwolkig darauf nieder und pickten sich übrig gebliebene Leckerbissen aus den Böden. Mit ihnen fielen in Lautsausgebraus die wilden, ungebärdigen Herbstwinde ein, getrieben von grauschwarzen Wolken. Genau das war der Moment, da der Walnussbaum seine Früchte aus der Obhut der Krone und des Blattwerks entließ. Recht recht weit sollten sie fliegen, sich an vielen Stellen um und in Winterhausen ihren Platz suchen. Er spürte, wie sie sich von ihm lösten und schaute ihnen hinterher. Das erschütterte ihn genauso sehr wie es ihn freute. Sie waren sein Geschenk an das Dorf.

Im Jahr darauf tat er ebenso, er wuchs, er nährte seine Früchte und goss sie über die Siedlung am Main. Immer mehr seiner honigbraunen, runzligen Nüsse reiften unter seiner Fürsorge heran, so viele bald, dass er die Kraft gar nicht mehr aufbrachte, sie mit einem einzigen großen Schwung in die Welt zu schicken. Inzwischen hatten auch die Winterhäuser entdeckt, was unter den runden dicken faserigen Hüllen am Walnussbaum heranwuchs und gelernt, zu warten, bis diese aufplatzten und die Nüsse frei gaben. Dann kamen sie und lasen die Früchte auf. Dabei erzählten sie von den Kindern, die geboren worden waren, von Menschen, die sie beerdigt hatten, von Häusern, die gebaut wurden, vom Main, der über die Ufer gestiegen war. So wurde der Walnussbaum einer von ihnen. Ob sie wussten, wie glücklich sie ihn damit machten? Waren ihre Körbe mit Nüssen gefüllt, trugen sie den Segen nach Hause, trockneten sie auf den Dachböden unter spitzen Hausgiebeln.

Entlang der Wege zum Dorf, auf Streuobstwiesen, an Feldrainen, in beinahe jedem Garten im Dorf hatten inzwischen die Abkömmlinge des ersten Winterhäuser Walnussbaums gekeimt, waren herangewachsen und bildeten eigene Nüsse aus. Sie lebten mit den Menschen zusammen, als sei es nie anders gewesen. Und jedes Jahr, kurz vor der Adventszeit, wenn die Nüsse schön trocken geworden waren, da holte man sie vom Dachboden. Den Kindern wurden sie in die Nikolaussäckchen gefüllt, andere bemalt und an Tannenzweige gehängt. Die meisten aber knackten die Dörfler mit Nussknackern, mit Hämmern, mit Steinen und allerlei anderem Gerät, bis die harte Schale sprang, um andächtig die öligen Kerne mit dem süßen, manchmal leicht bitteren Geschmack heraus zu pulen. Sie zierten damit weihnachtliches Gebäck, sie pressten sie zu Öl oder mahlten sie zu feinem Nussmehl für Kuchen oder Pralinen.
Das taten sie Jahr für Jahr – dem alten Nussbaum zur Freude. Sein Geschenk an die Menschen im Dorf war für sie ein solcher Reichtum, ein solcher Segen, dass sie begannen, viele der Köstlichkeiten aus den Walnüssen zu verkaufen, um anderen, die weniger hatten als sie, zu helfen.

Nur eines war über die lange, lange Zeit, seit sich die Nuss aus dem Krackenschnabel hatte fallen lassen, in Vergessenheit geraten: wo der erste Walnussbaum in Winterhausen gestanden hatte. Ob es ihn wohl noch gab?

Geht vom Dorf aus den Berg hinauf! Schaut nach einem großen alten Walnussbaum mit riesiger Krone und zufriedenem Lächeln! Vielleicht findet ihr ihn!